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Mai 2020
Das BVerfG, der EuGH und die Gesetzesumgehung der Europäischen Zentralbank

Jetzt hat in dem seit langem schwelenden Streit um den Anleihenankauf der ESZB/EZB und die Umgehung des Art. 123 Abs. 1 AEUV endlich das BVerfG1 ein auf den ersten Blick scheinbar bedeutsames Urteil gefällt. Gegen andauernde europäische Kompetenzübergriffe hatte es schon mehrmals seine «ultra vires»2- und «Verfassungskontrolle»3 ins Feld geführt, was heißt, dass der Vorrang des EU-Rechts und die Autonomie der EU nur soweit und solange anerkannt werden kann, als die Grenzen ihrer Kompetenz gewahrt, die Verfassungsidentität nicht tangiert und die Grundlagen der vorpositiven gemeineuropäischen Rechtsauslegung nicht missachtet werden. Dies folgt schon allein daraus, dass die EU, ursprünglich konzipiert als völkervertraglicher Zusammenschluss souveräner Staaten, ihr Recht allein von diesen ableitet. Zu beachten sind insbesondere die vertraglich vereinbarten Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV), der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 3 EUV) und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV).4 Ansonsten gilt freilich der Vorrang des Europarechts, den sich der EuGH5 selbst genehmigt hat und den die BRD in Art. 23 GG dann ausdrücklich anerkannt hat. Zuletzt hat das BVerfG dem EuGH die Frage vorgelegt, man könnte auch sagen nahegelegt, ob und dass das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der EZB/ESZB, mit dem diese Staatsanleihen zwar nicht direkt von den Mitgliedstaaten erwerben, sondern zu bestimmten Bedingungen auf dem Sekundärmarkt, eine Umgehung des Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt.6 Der EuGH7 hat dies ohne überzeugende Begründung verneint. Diese Begründung hat das BVerfG in seinem jüngsten Urteil als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich (vgl. Rn. 112 f., Rn 116) und methodisch nicht mehr vertretbar (Rn 115) bezeichnet. Das klingt nicht diplomatisch, sondern wie: «setzen, nicht genügend». Die harten Worte sollen die äußerste, weit hinausgeschobene Grenze markieren, bei deren Überschreitung das BVerfG dem EuGH schließlich die Gefolgschaft verweigert. Endlich, so hoffte der Leser jetzt, werde die eklatante Gesetzesumgehung des Art. 123 Abs. 1 AEUV gerügt, welcher der EZB die direkte Staatsfinanzierung verbietet. Mitnichten: Man reibt sich die Augen, wenn nach dieser harschen Kritik am EuGH mit der EZB sehr vorsichtig umgegangen und gesagt wird, das Programm sei im Hinblick auf die gegebenen Garantien gerade noch vertretbar. Wie bitte? Von den noch in EuGH C-62/14 – OMT v. 16. Juni 2015 Rn 100 – 132 geforderten Garantien, bei deren Vorliegen keine Gesetzesumgehung anzunehmen sein sollte, ist nichts übriggeblieben. Es sollte namentlich gewährleistet sein, dass die Erwerber der Anleihen auf dem Sekundärmarkt keine Gewissheit hätten, dass das ESZB diese Anleihen binnen eines Zeitraums und unter Bedingungen ankaufen würde, die es ihnen ermöglichten, faktisch als Mittelspersonen des ESZB für den unmittelbaren Erwerb dieser Anleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats zu agieren (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C-62/14, EU:C:2015:400, Rn. 104). EuGH Urt. v. 11.12.2018, Az. C-493/17 – PSPP 76 ff., 100 rekapitulierte und bestätigte die Kriterien von C62/14 und akzeptierte trotzdem eine Regelung, bei der die Ersterwerber gerade umgekehrt davon ausgehen konnten, dass ihnen ESZB und EZB die Papiere abnehmen. Auch das BVerfG (Rn 76 ff., 114 ff.) rügt nicht einfach die flagrante und manifeste Gesetzesumgehung, sondern die fehlende Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Programm der EZB/ESZB. Es moniert, dass diese bei der Durchführung des PSPP nur das währungspolitische Ziel, nicht jedoch die wirtschaftspolitischen Auswirkungen berücksichtigt und das (vorgebliche!) Inflationsziel (das das BVerfG offenbar für bare Münze nimmt) nicht gegen die negativen Auswirkungen auf Sparer (usw.) abgewogen habe. Darin liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nachzuholen und darzulegen, wie das BVerfG verlangt, macht allerdings wenig Sinn, denn das Gericht hat die Verletzung dieses Grundsatzes ja bereits bejaht, wenn es feststellt (LS 6b und Rn 165): «Die unbedingte Verfolgung des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV». In der Tat ist es ganz unverhältnismäßig zur Erreichung der eigenwillig festgesetzten «Preisstabilität» bei 2% Inflation (wegen angeblicher Deflationsgefahr) 2,6 Billionen Euro zu schöpfen und mit Null- oder gar Negativzinsen die Sparer auf Jahrzehnte zu enteignen. Die richtige Balance in diesem Punkt ist aber im Grundsatz Sache der EZB und ein Eingreifen des Rechts erst bei krasser Unverhältnismäßigkeit oder gar Scheinbegründung (Deflationsgefahr!) möglich. Die Annahme einer Gesetzesumgehung ist weit überzeugender als die Rüge der Unverhältnismäßigkeit. Aber ganz abgesehen davon, dass das BVerfG diese Annahme nicht aufrechterhalten hat, geht es nur noch um die Nachlieferung einer valablen Begründung (die es nicht gibt), um Herstellung von Transparenz und nicht um die teilweise Rückabwicklung eines verfassungswidrigen Verhaltens wegen Unverhältnismäßigkeit. Die verurteilte Bundesregierung und der Bundestag – EuGH und EZB unterliegen ja nicht der Jurisdiktion des BVerfG – sollen von der EZB einen Nachweis der Verhältnismäßigkeit verlangen. Wenn sie den nicht binnen drei Monaten bekämen, sei der Bundesbank eine weitere Teilnahme an dem PSPP untersagt. Man wird also via Bundesbank von der EZB/ESZB irgendeine Begründung bekommen und die Aufregung wird sich legen. Der Berg kreißt und gebiert eine Maus.8 Kritisch ist ein anderer Punkt: Das neue Coronaprogramm (PEPP) dient hauptsächlich dem Ankauf italienischer Anleihen und sieht keine verhältnismäßige Berücksichtigung aller beteiligter Staaten nach dem Kapitalschlüssel der EZB mehr vor. Das Urteil hat auch dies verlangt (Rn 203, 217), wenngleich es sich ausdrücklich nicht zum Coronaprogramm geäußert hat.
Die EZB, die durch den Maastrichtvertrag nicht nur den Status der Unabhängigkeit erlangt hat, sondern auch zur Preisstabilität verpflichtet ist, definiert diese als Inflation von 2% p.a. und hat angeblich zur Erreichung dieses Ziels unglaublich viel Geld geschöpft und tut dies weiterhin. Durch Anleihekäufe auf dem Sekundärmarkt in Höhe von 80 Milliarden EUR monatlich hat sie eine enorme Ausweitung der Geldmenge in einem Volumen von insgesamt 2,6 Billionen EUR («Quantitative Easing»9) herbeigeführt. Das «easy money» der EZB hat die ohnedies schon bedenkliche Geldschwemme weiter vergrößert, ist aber kaum in Investitionen geflossen, sondern hat vor allem die Vermögenspreise am Aktien- und Grundstücksmarkt enorm aufgebläht. Die Staaten haben die «gekaufte Zeit» nicht zum Abbau der Schulden benutzt. Vielmehr ist die Staatsverschuldung seither vielerorts weiter gestiegen. Sie betrug schon vor der Coronakrise in mehreren Mitgliedstaaten der EU 100% des BIP und mehr (z.B. 181% in Griechenland, 135% in Italien, 99% in Spanien und 97% in Frankreich). In Deutschland waren es «nur» 60%, nach Corona werden es 80% sein. Weitere easymoning-Aktionen führen zu weiterem Ansteigen der Verschuldung. Das Kernproblem der gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit wird nicht gelöst, solange die Staaten nicht in der Lage sind diese durch eine Abwertung auszugleichen. Das aber ist im Euro nicht mehr möglich. Solange es keine einheitliche Finanz- und Sozialpolitik gibt und die Inflationsmentalität in Nord und Süd ganz verschieden ist, hilft nur ein (temporärer) Ausstieg aus dem Euro. Zur Zeit geht man den umgekehrten Weg: In der Coronakrise wird nicht nur weiterhin Art. 123 Abs. 1 missachtet, sondern auch Art. 125 AEUV («no bail-out», vgl. unten). Die Rückkehr zu vernünftigen Wirtschaftsprinzipien wird so immer schwerer.
Der Grund weshalb die monetäre Staatsfinanzierung ausdrücklich verboten ist (Art. 123 Abs. 1 AEUV), ist evident: Es würde eine gesunde Haushaltspoltik der Mitgliedstaaten gefährden. Die Gefahr eines dauernden «deficit spending» und eines „ewigen Anschreibens“ wäre zu groß. Die Gesetzesumgehung durch Vorschieben einer anderen Person (interposita persona, Strohmann) gehört neben dem Scheingeschäft (negotium simulatum)10 seit dem Römischen Recht zum beliebtesten Instrumentarium der Gesetzesumgehung. Sie unterscheidet sich vom direkten Gesetzesverstoß dadurch, dass die verbotene Handlung nicht den Gesetzeswortlaut verletzt, sondern (nur) dem Sinn und Zweck des Gesetzes zuwiderläuft, vgl. z.B. Paulus Dig. 1, 2, 29: contra legem facit, qui id facit quod lex prohibet, in fraudem vero, qui salvis verbis legis sententiam eius circumvenit – Gegen das Gesetz handelt, wer tut, was das Gesetz verbietet, zum Nachteil des Gesetzes hingegen handelt, wer ohne Verletzung des Wortlauts den Gesetzeszweck umgeht. Cicero de officiis I 41 vergleicht den unmittelbaren Gesetzesverstoß mit der rohen Gewalt des Löwen, die schlaue Umgehung mit der List des Fuchses: Cum autem duobus modis id est aut vi aut fraude fiat iniuria: fraus quasi vulpeculae vis leonis videtur. Beim Bild des Fuchses hat man sogleich den damaligen Präsidenten der EZB, Mario Draghi vor Augen, der auch nicht müde wurde, die Scheinbegründung zu wiederholen, das gigantische easy money-Programm diene der Wahrung der Preisstabilität durch Erreichung eines Inflationszieles von oder nahe unter 2 %. Und weiter: Wenn Art. 123 Abs. 1 AEUV den Erwerb von Staatsanleihen verbiete, so verbiete er nicht diese von den Gläubigern der Staaten zu kaufen. Das ist wahr. Was man aber nicht darf, ist Scheingläubiger vorschieben, denen man signalisiert hat, ihnen die Papiere sogleich wieder abzunehmen. Alle Banken und Finanzmarktteilnehmer leihen überschuldeten Staaten Geld und zeichnen Anleihen, wenn feststeht, dass sie diese im Rahmen eines im voraus verkündeten Programms nach kurzer Haltefrist («die Rede ist eher von Tagen als von Wochen») an die ESZB/EZB weiterreichen können. Praktiziert wird sogar die Erneuerung auslaufender Anleihen, an deren definitive Tilgung offenbar nicht gedacht ist. Bei einer Maßnahme der Geldpolitik würde man erwarten, dass die EZB die Geldmenge auch wieder einmal reduziert. Die Staatsanleihen werden nur durch Inflation «getilgt». Daher benötigt man immerhin 2%. Dann sind die Schulden in 50 Jahren auch ohne Tilgung de facto weg. Im Handeln der EZB sind beide Elemente der Umgehung enthalten, die vorgeschobene Person und das Scheingeschäft. Es handelt sich jenseits jeder Auslegung um eine Gesetzesumgehung des Art. 123 Abs. 1 AEUV. Trotzdem hat der Europäische Gerichtshof11 die Praxis der EZB gedeckt und die offensichtliche Gesetzesumgehung geleugnet. Auch wenn man akzeptieren muss, dass der EuGH das letzte Wort hat, kann man ihm nicht bei jedem Rechtsbruch Gefolgschaft leisten. Es mag sein, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens der EZB nur pro futuro erfolgen kann, weil neue Währungsturbulenzen vermieden werden sollen. Die Befürchtung von Währungsspekulationen auf den Finanzmärkten und die Unabhängigkeit der EZB können aber nicht bedeuten, dass eine Gesetzesumgehung, die gleich schwer wiegt wie ein Gesetzesbruch, auf Dauer hingenommen werden könnte. Die Kosten und Risiken der vom EuGH gebilligten Gesetzesumgehung durch Ankauf auf dem Sekundärmarkt sind zudem weit höher als die der verbotenen Staatsfinanzierung. Sie bestehen neben erhöhten finanziellen Kosten vor allem in einem Verlust des Vertrauens in den Rechtsstaat, wenn sich der EuGH seine Ergebnisse ad libitum zurechtbiegt und die Gesetzesumgehung zuläßt. Auch führt diese Praxis unter Verletzung von Art. 123 Abs. 1 AEUV de facto zu einer Vergemeinschaftung von Schulden, die in Art. 125 AEUV («no bail-out») ausdrücklich ausgeschlossen ist.12 Das Inflationsziel von 2% zur Bekämpfung einer angeblichen Deflation ist nur ein Feigenblatt, das den wahren Zweck der Aktion, nämlich Staatsfinanzierung und Schuldentilgung durch Inflation verdecken soll. Die angebliche währungspolitische Maßnahme wird nur behauptet und vorgeschoben, um die fehlende Kompetenz der EZB und die Vertragswidrigkeit ihrer Praxis zu verschleiern. Weil sie nur Geldpolitik betreiben darf und keine monetäre Staatsfinanzierung, behauptet sie, eine Inflation von 2 % sei das wahre Stabilitätsziel und malt die Gefahren einer angeblichen Deflation an die Wand, die in Wahrheit gar nicht besteht. Verschwiegen wurde von der EZB auch, dass die von ihrer Geldpolitik in erster Linie betroffenen Assetpreise, die im Verbraucherpreisindex nicht enthalten sind, weit stärker gestiegen sind als 2% p.a. Die Grundstückspreise haben sich durch die Geldschwemme und die Verbilligung der Kredite in den letzten zehn Jahren besonders in den Ballungsgebieten nahezu verdoppelt und die Aktienkurse sind wegen der fehlenden Zinsanlagen nahezu auf das dreifache angestiegen. Die Maßnahmen der EZB haben inzwischen ein unvertretbares Ausmaß erreicht, ohne dass die gewünschte Wirkung eingetreten wäre. Vielmehr droht die ständige Erhöhung der Dosis den Patienten umzubringen. Die Verschuldung der Staaten durch billige Kredite ist seit 2008 europaweit explodiert und die EZB kann diesen Weg eigentlich nicht länger fortsetzen, denn der Ausstieg wird immer schwieriger und der seit der Finanzkrise entstandene Vertrauensverlust hat sich massiv verschärft. Die EZB gerät zudem in die Konjunkturfalle, weil sie in der bevorstehenden Abschwungphase keine geldpolitischen Mittel mehr zur Verfügung hat. Gleichwohl haben der scheidende Präsident und die neue Präsidentin die Fortsetzung dieser ultralockeren Geldpolitik angekündigt. Und in der Coronakrise wurde sogleich ein neues Programm von 1,35 Bill. EUR aufgelegt. Wenn man monetäre Staatsfinanzierung in der gegenwärtigen Coronakrise für unumgänglich hält, sollte man – nach der Maxime necessitas non habet legem (Not kennt kein Gebot) Art. 123 Abs. 1 AEUV außer Kraft setzen, anstatt ihn mit unehrlichen Scheinargumenten zu umgehen. Die Mitgliedstaaten können dies im Wege einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV.13
Beklagt wird jetzt auch, das BVerfG missachte die Unabhängigkeit der EZB/ESZB auf die besonders die Deutschen gedrungen hätten. Die Unabhängigkeit der EZB, die gerade dem Ziel gilt, zu verhindern, dass Staaten Einfluss nehmen, um eine monetäre Staatsfinanzierung zu erreichen, wird zum Bumerang, wenn man den Bock zum Gärtner macht. Sie sollte nicht angerufen werden, wenn gerade die EZB Staatsfinanzierung betreibt und «ungesunder Haushaltsführung» Vorschub leistet.
Wenn der EuGH und die EZB/ESZB diese Vertragsverletzung ignorieren, muss das BVerfG dem entgegentreten. Die Urteile des EuGH sind, man muss das leider sagen, oft durch Weitschweifigkeit, diffuse Argumentation und mangelnde Präzision, fehlende Dogmatik und Nichtbeachtung wichtiger Grundprinzipien des Rechts gekennzeichnet. Es geht um nicht weniger als die Bewahrung einer europäischen Rechtskultur14, die zum Kernbestand unserer gemeinsamen klassischen, lateinischen Kultur gehört. Einer der Hauptgründe für den Brexit war die Tatsache, dass die Briten die Bevormundung durch mehr oder weniger willkürliche Entscheidungen des EuGH nicht länger hinnehmen wollten. Den Mitgliedstaaten (und ihren Bürgern) wird mit tlw. sinnlosen Reglementierungen und Verboten, Strafen und Zwangsgeldern erheblicher Tort angetan. Doch scheuen die meisten den Exit zurecht, weil sie die Errungenschaften der freien Grenzen und Märkte nicht verlieren wollen. Die schwierige Aufgabe ist es, die intolerablen Auswüchse des Europarechts zurückzuschneiden und ihre Ursachen auszuschalten, zugleich aber die Europäischen Grundfreiheiten zu erhalten.
Der EuGH ist leider mehr mit Beamten der internationalen Verwaltung aus sehr verschiedenen Rechtskulturen besetzt als mit qualifizierten Richterpersönlichkeiten. Ebenso wie bei der Besetzung der Kommission ist es auch beim EuGH ein Grundfehler, dass, so wie jeder Mitgliedstaat einen Kommissar, jeder auch einen Richter haben muss. In der Kommission führt das dazu, dass die Anzahl der Kommissare und Generaldirektionen unnötig aufgebläht wird. Beim Gericht bewirkt ein viel zu großer Spruchkörper, dass sachgerechte Entscheidungen nicht selten auf der Strecke bleiben. Dieser Konstruktionsfehler findet sich auch beim EZB-Rat. Die EZB hätte das easy money-Programm ohne eine interessierte Mehrheit im EZB-Rat nicht durchführen können. Diese Mehrheit hat sie, weil für die 18 Eurostaaten bei Entscheidungen über Geld- und Finanzpolitik gleiches Stimmrecht gilt, anstatt – analog zur Haftung – eine Stimmgewichtung nach Kapitalanteilen. Malta, Zypern oder Luxemburg usw. zählen also gleichviel wie Deutschland oder Frankreich.
Die öffentliche Meinung kennt die Hintergründe nicht und geht überwiegend davon aus, das BVerfG habe Europäisches Recht gebrochen und Europa schweren Schaden zugefügt, insbesondere ein negatives Vorbild für Polen und Ungarn abgegeben.15 Die Kommissionspräsidentin droht der BRD absurderweise gar mit einem Vertragsverletzungsverfahren.16 Das ist vollkommen unangemessen und geeignet den Zusammenhalt in der Union ernsthaft zu gefährden. Kaum jemand kritisiert dagegen, dass der EuGH sein Amt als Hüter der Verträge krass missachtet und neben der EZB der eigentliche Vertragsverletzer ist, den freilich niemand zur Rechenschaft ziehen kann. Wenn der «Raum … des Rechts» (Art. 3 Abs. 2 EUV) unter der Herrschaft des EuGH zusehends in Unrecht versinkt und es dagegen kein anderes Remedium gibt, bleibt am Ende als ultima ratio nur der Austritt. Es ist dies auch kein Einzelfall und nicht etwa die erste Gesetzesumgehung,17 die das Gericht deckt und nicht die erste Kompetenzanmaßung18, die es gutheißt. Es leuchtet ein, dass diesem Treiben irgendwann irgendwie Einhalt geboten werden muss. Denn auf dem Spiel steht das Vertrauen in die Geltung und Achtung des Rechts. Deshalb ist es ganz vordergründig, wenn jetzt davor gewarnt wird, Länder wie Polen oder Ungarn, die den Rechtsstaat demontieren, könnten sich auf das BVerfG berufen. Freilich wäre es klarer und einfacher gewesen, die Kritik nicht an der fehlenden Verhältnismäßigkeitsprüfung festzumachen, sondern an der manifesten Gesetzesumgehung.
  1. Urteil v. 5. 5. 2020, 2 BvR 859/15.
  2. BVerfGE 85, 155 – Maastricht.
  3. BVerfGE 123, 267 – Lissabon.
  4. Namentlich die Grundsätze des Art. 5 EUV werden von Kommisssion und EuGH notorisch missachtet. Zahlreiche Beispiel bei Staudinger/Honsell Einl BGB Rn 112 ff.
  5. Rs 26/62 danach habe die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wenn auch in begrenztem Rahmen, die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten eingeschränkt. Argumentiert wurde in der Hauptsache damit, dass anders ein Funktionieren des Binnenmarktes nicht möglich sei.
  6. BVerfGE 146, 216.
  7. Urt. v. 11.12.2018, Az. C-493/17: Das Programm der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten (PSPP-Beschluss: Public Sector Asset Purchase Program) gehe nicht über ihr Mandat hinaus und verletze auch nicht das Verbot der monetären Finanzierung.
  8. Horaz, Ars poetica 139: paturient montes nascetur ridiculus mus.
  9. Dazu kritisch Stiglitz, Reich und Arm – Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft (2015) 37 ff., 114.
  10. Näher Honsell, In fraudem legis agere, 1. FS Kaser (1976) 111 ff.
  11. Oben Fn 7.
  12. Das Corona Wiederaufbauprogramm sieht eine Kreditaufnahme durch die EU vor für das die Mitglieder entsprechend ihrer Wirtschaftskraft anteilig haften und das deshalb nur freiwillig und einstimmig durchgeführt werden kann.
  13. Für ein solches Verfahren sollte im EZB-Rat eine Zweidrittelmehrheit der Kapitalanteile erforderlich sein und nicht einfache Mehrheit der Stimmen.
  14. Vgl. dazu Honsell, Europäische Rechtskultur (2009) VII ff.
  15. Eine der wenigen Ausnahmen ist D. Grimm, EZB-Urteil und die Folgen – Jetzt war es soweit, FAZ v. 18.5.2020, der zutreffend darlegt, dass das BVerfG endlich einschreiten musste.
  16. Von denen es zur Zeit 76 gibt; vgl. Handelsblatt v. 12. 5. 2020 https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/eurecht-bei-vertragsverletzungsverfahren-liegt-deutschland-unter-allen-eu-staaten-auf-platz-zwei/25541472.html?ticket=ST- 1423708-OdQBlpYEBrqbxCUZOHL2-ap2 Bei dem lockeren Gesetzesverständnis in Brüssel, und der notorischen Missachtung des Art. 5 Abs. 1 EUV (Begrenzte Einzelermächtigung) sowie des Abs. 3 u. 4 (Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit) spricht dies viel mehr gegen Brüssel als gegen Berlin. Von Stil und Umgang in einem großen Staatenbund ganz zu schweigen.
  17. Ein weiteres Beispiel einer gerichtlich autorisierten Gesetzesumgehung ist die Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht. Seit den Urteilen Centros, Überseering und Inspire (EuGH v 9.3.1999 C-212/97; 5.11.2002 C-208/00; 30.9.2003 C-167/01) kann jedermann mit einer englischen Limited Company Geschäfte in den Europäischen Mitgliedsstaaten betreiben. Damit können alle Vorschriften des nationalen GmbH-Rechts über Mindestkapital, Kapitalerhaltung und Gläubigerschutz umgangen werden. Aus verbotener Gesetzesumgehung wird eine vom EuGH garantierte Wahlfreiheit für die Errichtung beliebuger Briefkastenfirmen. Das hat entgegen EuGH mit Niederlassungsfreiheit (Art. 49 = ex-Art. 43 u Art. 54 AEUV = ex-Art. 48 EGV) gar nichts zu tun. Denn diese deckt natürlich die Zulassung bloßer Scheingesellschaften ohne wirtschaftliche Aktivitäten nicht; krit. auch Zöllner, GmbHR 2006, 1 ff.; G. Rüffler, in: Europäische Rechtskultur, Symp. Honsell (2009) 85 ff.; Grigoleit in: Neuner, Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007) 266; Eidenmüller ZGR 2007, 168. S. dazu noch Honsell, Was ist Gerechtigkeit? 127 129, 180.8
  18. Zahlreiche Beispiele bei Staudinger/Honsell Einl. BGB Rn 112 ff. insbes. 112 e-h. Auch der ehemalige Bundespräsident und Präsident des BVerfG, Roman Herzog beklagt, dass der EuGH zentrale Grundsätze der abendländischen richterlichen Rechtsauslegung bewusst und systematisch ignoriere (vgl. Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 8. 9. 2008 Nr. 210 S 8).
Februar 2020
Das deutsche Bundesverfassungsgericht bejaht das Recht auf den Freitod

Das ist ein guter Tag für die Bundesrepublik. Das BVerfG (Az.: 2 BvR 2347/15 u.a.) hat am 26.2.2020 den § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte. Das betraf und bedrohte nicht nur Sterbehilfevereine, sondern auch Ärzte, denn der Begriff «geschäftsmäßig» war unklar und die Abgrenzung zur Hilfe in Einzelfällen unscharf. Die Vorschrift verweigerte namentlich Alten und Kranken das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod war in der griechischen und römischen Antike ein unangetasteter Bestandteil der condicio humana, der heute ohne weiteres aus Art. 1 Grundgesetz (Menschenwürde) u. 2 GG (Freiheit, Persönlichkeitsrecht) ableitbar ist. Damit ist die Perhorreszierung der Euthanasie, die erst durch die Tötung Behinderter in der Nazizeit zu einem Verbrechensbegriff geworden war, überwunden. Freilich lehnen noch heute viele den Freitod ab und fürchten, dass Zwang auf Alte und Kranke ausgeübt werden könnte.
Wo man bei Lektüre des Urteils freilich wieder ins Kopfschütteln kommt, das ist die verfassungsmäßige Herleitung der geschäftsmäßigen Assistenz zur Selbsttötung aus Art 12 GG: Dass es ein Recht geben soll, Suizidhilfe im Rahmen beruflicher Tätigkeit zu erbringen und das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Ärzte verletze ist wieder eine der hinlänglich bekannten normfremden Hypostasierungen (Forsthoff) des Bundesverfassungsgerichts, das nach Art von Hohepriestern aus der Verfassung Dinge herausliest, die nicht drinstehen (näher. Staudinger Honsell Komm. BGB 2018 Einleitung Rz 187 ff. und Wächter oder Herrscher – das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, ZIP 2009, 1689 ff.).
Ein Dilemma bleibt freilich, dass heute die meisten auf Hilfe angewiesen sind, wenn sie sterben wollen, weil der Staat alle Mitte weggesperrt hat, die man benötigt (z.B. Natrium Pento-Barbital) und wir deshalb viele schreckliche Selbsttötungsfälle sehen. Man braucht einen Arzt, der einem den Wirkstoff verschreibt. Dazu sind Ärzte aber nicht verpflichtet. Ein weiteres Problem ist, dass das Urteil sich nicht auf Kranke und Alte beschränkt. Jeder hat das Recht auf den Freitod. Bei psychisch Kranken und in ähnlichen Fällen braucht es aber Kriterien anhand derer Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit des Sterbewillens überprüft werden können.


Barbarische Urteile in Griechenland

Die Generalprävention musste in der Geschichte schon für Vieles herhalten, zuletzt für barbarische Strafen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms. Die absurdesten Urteile finden wir dazu in Griechenland, wo sich das Parlament im Kampf gegen das Schleppertum zu einer kollektiven Untat hat hinreißen lassen. Die Schlepper werden mit 15 Jahren bestraft, pro Flüchtling! Dazu kommt noch eine Geldstrafe von 200’000 EUR, ebenfalls pro Flüchtling. Die Richter auf Lesbos verurteilen Täter mit 20 Flüchtlingen im Boot im Schnellverfahren zu Gefängnisstrafen von 300 Jahren und Geldstrafen von 4 Millionen. Es sind selten die Drahtzieher, sondern meist arme Leute, die nur das Schiff gesteuert haben und oft selber Flüchtlinge sind. Einmal wurde ein Kurde verhaftet, der selbst Flüchtling war und nur das Pech hatte englisch zu können. Als der Motor ausgefallen war, hatte er auf Bitten der Schlepper die Küstenwache verständigt. Wegen dieses Anrufs war er 13 Monate in Haft ehe er freikam. (Spiegel Heft 7 v. 8.2.2020 Ausland/Griechenland).
Die griechische Praxis ist Staatsterror und Justizbarbarei, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden müsste. Die Opfer müssten vom Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg aus den Klauen der griechischen Justiz befreit werden.
Stattdessen eilen europäische Politiker an die griechisch/türkische Grenze und bekunden dort ihre Bereitschaft zur Verteidigung der Europäischen Außengrenze. Auch wenn Europa seine Außengrenzen schützen muss, kann es diese in einer extremen Notsituationen nicht quasi sakralisieren und jedes Maß und jegliche Humanität über Bord werfen, nur um einen angeblichen Kontrollverlust zu vermeiden und rechten Populisten nach dem Mund zu reden.


Der BGH und die longi temporis praescriptio (Einrede der langjährigen Übung)

BGH Urt. v. 24. 1. 2020 V ZR 155/18 Kein gewohnheitsrechtliches Wegerecht, trotz jahrzehntelanger Duldung.
Der (neue) Eigentümer kann die Zufahrt zu einer Garage sperren, die der Nachbar mehr als dreissig Jahre benutzt hat. Außerhalb des Grundbuchs könne, so der BGH, ein Wegerecht nur aufgrund eines (schuldrechtlichen) Vertrages oder als Notwegerecht nach § 917 BGB bestehen.

Sachverhalt: „Die Kläger sind Eigentümer dreier nebeneinander an einer öffentlichen Straße liegender Grundstücke, die mit drei aneinandergrenzenden Häusern bebaut sind. Im rückwärtigen Teil dieser Grundstücke befinden sich Garagen, die baurechtlich nicht genehmigt sind. Die Beklagte ist Eigentümerin von Grundstücken, auf denen sich ein Weg befindet, über den die Kläger die Garagen und die rückwärtigen Bereiche ihrer vorne über die Straße erschlossenen Grundstücke erreichen. Eine Nutzung des Weges wurde seit Jahrzehnten durch frühere Eigentümer der Grundstücke und nach dem Eigentumsübergang auf die Beklagte durch diese selbst geduldet. Mit Wirkung zum 31. Dezember 2016 erklärte die Beklagte gegenüber den Klägern die "Kündigung des Leihvertrages über das vor über 30 Jahren bestellte, schuldrechtliche Wegerecht". Sie kündigte an, den Weg zu sperren und begann mit dem Bau einer Toranlage. Die Kläger, die sich auf ein zu ihren Gunsten bestehendes Wegerecht, hilfsweise auf ein Notwegrecht berufen, verlangen von der Beklagten, die Sperrung des Weges zu unterlassen.“

LG Aachen und OLG Köln hatten der Klage stattgegeben. Das OLG bejahte ein gewohnheitsrechtliches Wegerecht. Der BGH lehnt das ab. In Betracht komme lediglich ein Notwegerecht. Diese Argumentation ist offenbar beeinflusst von der allgemeinen Charakterisierung des Gewohnheitsrechts als gesetzesgleiche Rechtsquelle. Gewohnheitsrecht könnten nur eine allgemeine an mehrere Adressaten gerichtete Norm sein, nicht jedoch die Regelung eines Einzelfalles. Deshalb steht die Entscheidung der gewohnheitsrechtlichen Begründung eines öffentlichen Weg auf Privatgrund nicht entgegen, da hier eine unbestimmte Personenzahl den Weg benutzt.
Der von dem Berufungsgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegte weite Begriff des Gewohnheitsrechts, so der BGH weiter, führe im Ergebnis zum Erwerb einer nicht im Grundbuch eingetragenen Grunddienstbarkeit. Das sehe das Bürgerliche Gesetzbuch nicht vor. In der Tat verlangt § 873 Abs. 1 BGB für die Grunddienstbarkeit einen Grundbucheintrag. Damit wollte man den Erwerb von Grunddienstbarkeiten im Wege der Ersitzung ausschließen (Motive III 165 f., 477) und „der Gefahr vorbeugen, dass durch fortgesetzten Missbrauch einer Gefälligkeit ein Recht erschlichen werde“ (Motive III 165) und dass „verwickelte und kostspielige Rechtsstreitigkeiten [entstehen] zwischen demjenigen, welcher eine Dienstbarkeit in Anspruch nimmt, und dem Erwerber des Grundstücks, der von derselben keine Kenntnis erhalten hat“ (Motive III 165 f.). Das ist eine sehr verkürzte und eher rhetorische Argumentation. Regelmässig liegt der Fall so, dass der Eigentümer die alte Belastung los werden will und die Situation ausnutzt, dass der Berechtigte sein Recht nach so langer Zeit nicht mehr beweisen kann. Soll wirklich der Eigentümer auch nach Dezennien den Weg noch sperren können, obwohl sein(e) Vorgänger und bis zum Streit auch er selbst die Nutzung gestattet hatten? Und gilt dies etwa auch für ein (nicht eingetragenes) Wasserleitungsrecht, so dass die Wasserleitung gesperrt werden kann? Die Frage stellen, heißt sie verneinen; denn jedenfalls nach 30 Jahren spricht nichts gegen die Erleichterung des Beweises durch Verzicht auf den Nachweis eines Titels und die Anerkennung der normativen Kraft des Faktischen. Das haben die Väter des BGB verkannt, die mit der oben zitierten Begründung vom römisch gemeinen recht abgewichen sind. Das verkennt auch der BGH.
Schon in Rom hatte die Servitutenersitzung eine wechselvolle Geschichte, die Dernburg (Pandekten 609 f.) folgendermaßen beschrieben hat: „Die Servitutenersitzung hatte in Rom wechselnde Schicksale. Ursprünglich wendete man die usucapio auch auf die Ersitzung an, so dass die Übung einer Servitut in kurzer Frist zum Recht wurde. Dies erschien derart lästig und schädlich, dass eine lex Scribonia die usucapio der Servituten schlechthin aufhob. Man war hiermit von dem einen Extrem in das andere gerathen. Die laxen Anforderungen an die usucapio hatten die Gefahr mit sich gebracht, dass nachbarliche Gefälligkeiten zu Rechten wurden. Dem entgegenzutreten war zweckmäßig. Aber die gänzliche Ausschließung der Ersitzung der Servituten hatte eine sehr bedenkliche Seite. Denn althergebrachte Servituten verlieren im Lauf der Zeit oft die Möglichkeit des Nachweises ihrer ursprünglichen Erwerbstitel, die in Vergessenheit geraten sind; sie finden dann ihre Deckung im Institut der Ersitzung.“ … So sah man sich in der Kaiserzeit veranlaßt, eine neue Art der Servitutenersitzung, die longa possessio einzuführen.“
Die longi temporis praescriptio des römischen Rechts ermöglichte eine 10- bzw. 20-jährige Ersitzung, wenn der Besitz nicht vim, clam aut precario erworben worden war. Prekaristischer Besitz („Bittleihe“) war keine taugliche Grundlage. Daher findet man auf Privatwegen noch heute den Hinweis „Benutzung widerruflich gestattet“. Wer auf seinem Grundstück ein Gebäude errichtet, das nur über ein fremdes Grundstück erreichbar ist, tut dies aber nur auf Grund einer entsprechenden Vereinbarung und nicht auf der Basis eines precarium.
Die Entscheidung des BGH lässt sich auf den Willen des Gesetzgebers stützen (vgl. Motive III 165 f., 477), vernünftig ist sie nicht; denn hier – wie öfter – ist die Abweichung des BGB vom römisch gemeinen Recht nicht gut begründet. In Österreich und Frankreich wäre die Entscheidung anders ausgefallen, denn Art. 690 Code civil und §§ 480, 1468 ABGB und im Prinzip auch Art. 1031 ff. Codice civile haben die gemeinrechtliche Lösung übernommen und lassen die Ersitzung von Servituten in 30 Jahren zu. Freilich hat das BGB die Servitutenersitzung nicht übernommen. Dessen ungeachtet können wir häufig beobachten, dass gemeinrechtliche Lösungen wegen ihrer höheren Sachgerechtigkeit in der Rsp später scheinbar zufällig wieder auftauchen. (S. dazu Mayer-Maly, Die Wiederkehr von Rechtsfiguren JZ 1971, 1 ff; Honsell, Die Rechtsgeschichte und ihre Bedeutung für die Privatrechtsdogmatik, FS Canaris II (1917) 1ff.). So verhält es sich auch hier mit dem Urteil des OLG Köln, das, durchaus kreativ, die Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts etwas zurechtgebogen hat, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu gelangen, was leider der BGH nicht akzeptiert hat.
Oktober 2019
Erschreckende Fehlurteile zu § 153 StGB in Österreich

Die Urteile des LG Salzburg v. 28.7.2017 (Az: 36 Hv 15/17a) und des OGH v. 2.10.2019 (Az: 13 Os 145/18z-21) gegen Altbürgermeister Dr. Heinz Schaden, Altlandesrat Dr. Othmar Raus und mehrere Beamte von Land und Stadt wegen Untreue nach § 153 StGB verfolgen Taten ohne jeden Unrechtsgehalt und verstoßen gegen das Bestimmt¬¬heitsgebot des Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege clara et certa). § 153 Abs. 2 StGB enthält folgende Definition des „Befugnismissbrauchs: Seine Befugnis missbraucht, wer in unvertretbarer Weise gegen solche Regeln verstößt, die dem Vermögensschutz des wirtschaftlich Berechtigten dienen.“ Das ist so unbestimmt, dass man es als eine Ermächtigung zur Kadijustiz bezeichnen kann.
Die Vorschrift des § 153 Abs. 1 - 3 StGB setzt – anders als die typische Untreue – keine Bereicherung des Vertreters voraus und bedroht ihn gleichwohl mit einer Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren, wenn ein 300’000 Euro übersteigender Schaden entstanden ist. Eine solch überzogene und auch im internationalen Vergleich singuläre Strafe findet man sonst nur bei schweren Bereicherungsdelikten, wie schwerem Diebstahl (§ 128 Abs. 2), schwerem Betrug (§ 147 Abs. 3 StGB), schwerer Veruntreuung (§ 133 Abs. 2), schwerem Raub (§ 142 Abs. 1), oder schwerer Erpressung (§ 145 StGB) usw.
Was haben die Beteiligten getan? Das Land hat der Stadt sechs möglicherweise negative Zinsswaps unentgeltlich abgenommen, welche die Stadt zuvor auf Empfehlung des Rechnungshofes zum Zwecke des Zinsmanagements erworben hatte, die aber infolge der Draghi’schen Zinspolitik der EZB negativ geworden waren. Man ging dabei davon aus, dass das Land diese Instrumente besser händeln könne.
Der Kern des Vorwurfs in den 491 Seiten der copy paste-Bastelarbeit des LG Salzburg ist: „Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen Ende Juni und August 2007 stellte der Drittangeklagte (03 Dr. Heinz Schaden) einen auf Durchführung der Vertragsübernahmen abzielenden Konsens mit dem Viertangeklagten (04 Dr. Othmar Raus) her und veranlasste diesen, seinen bevollmächtigten Mitarbeitern des Landes Salzburg die Durchführung der Vertragsübernahme des sechs Swapverträge beinhaltenden Derivate–Portfolios der Stadt Salzburg und zwar Hypo … aufzutragen“ (Faktum 2 A und Faktum 2 b S. 70, 73, s. auch S. 103, 163 u. 320).
Dazu der OGH (S. 37): „Das hier „festgestellte abgesprochene Zusammenwirken [mit den richtig: der] Machthaber[n] zum Nachteil des Vertretenen“ wird von der Rechtsordnung nicht geduldet (vgl. auch ... 13 Os 105/15p)“. Bei dem Verweis auf dieses eigene Senatsurteil verschweigt der OGH, dass es dort um den ganz anders gelagerten Fall kollusiv vereinbarter überhöhter Preise und Kickbacks gegangen war (Untreue und Bestechung). Diese Art der Begründung und des Zitierens bedarf keines Kommentars.
Es fehlt aber nicht nur die Bereicherungsabsicht, es fehlt auch ein Schädigungsvorsatz gegenüber dem Land. Denn die allenfalls geschädigten Bürger sind jedenfalls teilidentisch und der Landesrat hätte die Sache durch Zustimmung des zuständigen Organs (Landesregierung oder Landtag) genehmigen lassen können. Dieses Versäumnis begründet einen Zuständigkeitsmangel, der aber für einen Untreuevorwurf keinesfalls ausreicht. Und schließlich gingen den Bürgermeister interne Zuständigkeiten oder Vertretungsregeln des Landes überhaupt nichts an.

Man ist fassungslos, dass in einem Rechtsstaat verdiente Politiker und unbescholtene Beamte mit derart nichtssagenden Feststellungen und irreführenden Zitaten ins Gefängnis geschickt werden können. Der Vorsitzende des Senats hat das copy-paste-Urteil „akribisch“ genannt und sich auf die Notwendigkeit der Generalprävention berufen. Der Städtebund ist betroffen und beunruhigt Städtebund: Große Betroffenheit über Schaden-Urteil.
Jetzt überlegt man endlich, den „Unrechtsparagrafen“ § 153 StGB zu reformieren, der 1931 rückwirkend (!) erlassen worden war, weil man nach dem Bank-Run auf die Creditanstalt im Gefolge des „schwarzen Freitags“ einen Sündenbock brauchte (zur lex Ehrenfest näher Honsell, wbl 1918, 651 ff.).
Der klarste und einfachste Schritt hierzu wäre es, den Straftatbestand wieder an die Bereicherung zu knüpfen.


s. auch
Sieben Punkte - Freunde helfen Heinz
Der Befugnismissbrauch im Untreuetatbestand des § 153 StGB
März 2019
Die «Ehe für alle», eine Frage der Gleichbehandlung ?
Der Befugnismissbrauch im Untreuetatbestand des § 153 StGB
Auslegung und Rhetorik, in: Susanne Hähnchen (Hg)
Januar 2018
Ehe und Familie
Juli 2016 Zwei neuere problematische Verfassungsurteile
Das deutsche Bundesverfassungsgericht und die Watzmann Therme
Die Wahlentscheidung des öst. VfGH

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Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Wien im Rahmen des dies honorum anlässlich der 650 Jahr-Feier.
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Was ist Gerechtigkeit?
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Inhaltsverzeichnis ZfPW 01/2016
Zeitschrift für die gesamte Privatrechtwissenschaft Ausgabe 01/2016
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Seit 2015 erscheint die Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft, eine neue wisseschaftliche Archivzeitschrift.
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Festschriften

Publikation zum Deutschen RechtPublikation zum Schweizer RechtPublikation zum Österreichischen Recht F. Harrer/W. Portmann/R. Zäch Hrsg.Besonderes Vertragsrecht - Aktuelle Probleme,
FS Heinrich Honsell zum 60. Geburtstag, 2002
Publikation zum Schweizer Recht B.Isenring/M. Kessler Hrsg., Schutz und Verantwortung, Liber Amicorum f. Heinrich Honsell, 2007
Vinculum juris, Gemeinsame Grundlagen und nationale Entwicklungen des Obligationenrechts A. Büchler, W. Ernst, P. Oberhammer Hrsg., Symposion aus Anlass der Emeritierung von Heinrich Honsell, 2008
Europäische Rechtskultur – Analyse und Kritik der Europäischen Rechtssetzung und Rechtsprechung,
F. Harrer/ M. Gruber Hrsg., Symposion für Heinrich Honsell zum 65. Geburtstag, 2009

Laudatio

Publikation zum Schweizer Recht Laudatio zur Emeritierung v. Prof. Heinrich Honsell von Peter Gauch, gehalten anlässlich des Symposiums v. 23. Juni 2007 an der Universität Zürich 2007, abgedruckt in Recht 2007, 166 ff.